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Genozid an Armeniern


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»Wer am Leben blieb, wurde nackt gelassen«

Bis heute leugnet die Türkei den Genozid an den Armeniern, bei dem vor 90 Jahren mehr als eine Million Menschen getötet wurden. Auch Deutschland spricht lieber nicht von Völkermord

VON CHRISTIAN SCHMIDT-HÄUER

15 DIE ZEIT Nr.13 23. März 2005

DOSSIER

Am Anfang war das Paradies. Als Yüghaper Dirazuian es betrat, schrieb man das Jahr 1901. Ihr Geburtsort am Rande des türkischen Taurusgebirges hieß Zeytun, was auf Armenisch Olive bedeutet. In Zeytun wurde viel gesungen, alle Armenier kannten die alten Heldenlieder über die Verteidigung der Bergfestung. Yüghaper, die zur höheren Schule ging, hatte vier Brüder und vier Schwestern. In drei Gärten konnten die Kinder herumtollen. In der Traubenzeit naschten sie im Weingarten. Der Vater war Kaufmann. Heute trägt Zeytun den türkischen Namen Suleymanli, und die Armenier, die gibt es dort schon seit neunzig Jahren nicht mehr. Vor der Vertreibung

aber prägten ihre großen, auch wohlhabenden Familien den Ort. Türkische Bauern gehörten zu ihren Kunden.

Ostern 1915 kamen andere Türken. Gendarmen.Sie trieben die Familie und alle armenischen Nachbarn aus den Häusern, durch den Ort, die staubigen, schattenlosen Landstraßen und baumlosen Gebirgstäler entlang, ohne Verpflegung und Unterkunft durch die sengenden Tage und die klammen Nächte. Als die Karawane an den Fluss Kabur kam, befahlen die Menschentreiber den Männern im Zug, das Wasser zu durchqueren. Die Strömung riss sie fort. Dass sie nicht schwimmen konnten, wussten die Gendarmen. Frauen und Kinder scheuchten sie weiter – zur »Umsiedlung «, wie die türkische Sprachregelung noch heute lautet. Yüghaper, die alle Verwandten auf dem Marsch verlor, gab als letzte Augenzeugin am 14. Mai 1989 in Paris zu Protokoll, wohin ihre »Umsiedlung« führte: »Man brachte uns nach Scheddede, an eine Höhle. Ihre Öffnung war so groß wie ein Tisch, aber unten hatte sie das Ausmaß von zwei oder drei Zimmern. Man ergriff die Frauen wie Säcke, zündete ihre Rocksäume an und warf sie hinunter. Alles schrie. Als ich dran war, bin ich schnell selbst gesprungen. Ich blutete, kroch zitternd in einen Winkel, verlor das Bewusstsein … Am nächsten Tag kamen Männer in die Höhle, es waren keine Türken mehr, sondern Araber. Sie suchten nach Goldmünzen. Ich bekam mit, wie man einer Frau, die zugab, ihr Geld verschluckt zu haben, den Bauch aufschlitzte. Mich zerrten sie von einer Ecke zur anderen und brüllten: »Ausziehen, ausziehen!« Als ich immer wieder beteuerte, dass ich nichts hätte, nicht einmal zu essen und zu trinken, bekam einer von ihnen Mitleid. Sein Cousin, der ihn mit einem Seil hinuntergelassen hatte, zog mich herauf. Draußen lagen Frauen und Kinder mit aufgeschlitzten Bäuchen. Die beiden jungen Araber taten so, als ob ich zu ihnen gehörte, damit die in der Nähe stehenden türkischen Gendarmen nichts merkten. Als sie mich zu sich nach Hause brachten, hat mich die Mutter des einen weinend umarmt und geküsst … Ich war die einzige Überlebende aus der Höhle.« »Meine Mutter sah wie ein Skelett aus, nur Haut und Knochen« Aram Gureghian aus Sepastia (Samsun) war zehn Jahre alt, als seine Familie deportiert wurde. Zu den Stationen des Todesmarsches, über den er am 17. September 1989 einen Tag lang in seiner Pariser Wohnung Auskunft gab, gehörte auch diese: »Bisher hatten immer vier, fünf türkische Gendarmen unsere Gruppe begleitet, die von Stadt zu Stadt wechselten. An diesem Tag aber waren sie verschwunden. Stattdessen trieben uns Kurden weiter, bis an ein Feld, auf dem wir nächtigen sollten. Als der Morgen dämmerte, gab es einen furchtbaren Lärm. Wir sahen, dass all jene, die am Rande der Karawane gelegen hatten, weggetrieben wurden, vor allem junge Mädchen. Die Bande tat alles, um Goldmünzen aufzutreiben. Sie köpften, sie schlitzten sogar Bäuche auf. Wer am Leben blieb, wurde völlig nackt gelassen …

Sie nahmen auch meine Schwestern mit, Isguhui, 14, Saruhi, 15, meinen Bruder, meine Mutter, mich. Wir wurden alle völlig entblößt, jeder, jeder nackt. Meine kleine Schwester, die Sirvart, ist in dem Getrampel erdrückt worden. Als wir den Euphrat überquerten, haben wir sie im Sand begraben. Der einzige Mensch aus unserer

Familie, den wir unterwegs beisetzen konnten … So sind wir tagelang völlig nackt gegangen. Es gab niemanden mehr, der befahl, der uns den Weg zeigte. Dann kamen wir an einen Ort, wo es einen Brunnen gab, aus dem ein Mann Wasser schöpfte. Meine Mutter sagte: ›Wir möchten trinken.‹ Der Mann schüttelte den Kopf: ›Das Wasser ist für die Tiere.‹ Meine Muter bat und flehte weiter. Sie sah wie ein Skelett aus, überhaupt kein Fleisch mehr am nackten Körper, nur Haut und Knochen. Wir sahen alle wie Skelette aus. Da zeigte der Mann auf mich: ›Wenn du mir diesen Jungen gibst, lasse ich euch ans Wasser.‹ Sofort willigte meine Mutter ein. Sie hat mich hergegeben, damit alle trinken konnten.« Die Aussagen von Yüghaper und Aram sind bis heute nicht veröffentlicht worden. Das Institut für Diaspora- und Genozidforschung an der Bochumer Ruhr-Universität bewahrt sie zusammen mit

138 anderen Lebensberichten auf. Mihran Dabag, Direktor des Instituts und selbst ein Kind von Überlebenden, hat die Interviews mit den letzten Augenzeugen der Massaker zwischen 1988 und 1996 geführt. Für sie und die heute lebenden, in alle Welt verstreuten Armenier begann der geplante Völkermord am 24. April 1915 – vor 90 Jahren. Die Deportationen und die gezielte Vernichtung von mindestens einer Million Menschen im schützenden Schatten des Ersten Weltkriegs standen am Anfang aller staatlich gelenkten Vertreibungen, ethnischen Säuberungen und Völkermorde des 20. Jahrhunderts. Die Armenier haben für das Verhängnis, das über sie hereinbrach, ein eigenes Wort: Aghet, die Tat des Fremden, die ins Innere dringt und es zerstört. Ausländer, die sich schon am Ende des 19. Jahrhunderts über Massaker an den Armeniern entsetzt hatten, verwandten dafür zum ersten Mal den Begriff Holocaust. So schrieb die amerikanische Missionarin Corinna Shattuck, die 1895 in der Stadt Urfa erlebte, wie verfolgte Armenier in einer Kirche verbrannt wurden, im Brief an ihre Schwester »von dem unbeschreiblich krank machenden Geruch des großen Holocaust in der gregorianischen Kirche «. Und schon 1933 nannte der jüdische Dichter Franz Werfel in seinem Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh die armenischen Todeskarawanen prophetisch »wandernde Konzentrationslager«. Die Türkei aber, genauer: ihre Herrschaftselite und die Beamten aller Ränge, streitet bis heute die Fakten wie den Völkermord kategorisch ab. Warum? »Weil der Genozid mit der Modernisierung des Landes zusammenfiel«, sagt Mihran Dabag. »Er geschah gerade auf der Schwelle der Geschichte: während der Transformation des multi-ethnischen Osmanischen Reiches in einen Nationalstaat mit pantürkischer Ideologie.« Der türkische Historiker Taner Akçam, früher am Hamburger Institut für Sozialforschung tätig und heute an der Universität von Minnesota, erklärt das Vertuschen mit der Staatsräson: »Zuzugeben, dass die Gründer der modernen Türkei, die heute als Helden gelten, Komplizen des Bösen waren, könnte die Legitimation des Staates infrage stellen.«Deshalb argumentiert dieser Staat seit Jahrzehnten, die Umsiedlung sei eine legitime Notwehr im Krieg gegen die Russen und die Ententemächte England und Frankreich gewesen. Die Armenier, heißt es in Bezug auf eine kleine Minderheit von Separatisten, hätten die Verschickung sich selbst und ihrer Sympathie für Russland zuschreiben. Diese Begründung hat Ankara jüngst durch die zunächst einmal auf Zeitgewinn gerichtete Empfehlung ergänzt, Kommissionen mit Vertretern aller Seiten und »neutralen« Historikern müssten die geschichtlichen Tatbestände seriös überprüfen. Mehmet Ali Irtemçelik, der türkische Botschafter in Berlin, gegenüber der ZEIT: »Es ist unfair, bei einem Thema, das die Historiker entzweit, die Türkei zu zwingen, ein unbewiesenes Verbrechen zu akzeptieren. Wenn die Armenier erwarten, dass die Türkei wegen des EU-Beitritts nachgibt – das werden wir nicht tun.«

Türkische Lehrer müssen die Ausrottung von Armeniern in Abrede stellen. Wann immer ein Staat oder eine Gruppe die Massaker als Völkermord bewertet, reagiert das Nato-Land bisher noch immer, als sei ihm »der Krieg erklärt worden«, so der Historiker Wolfgang Benz. 24 Staaten, darunter Frankreich, Italien, Belgien, die Niederlande, haben den Genozid inzwischen verurteilt und prompt harsche Reaktionen zu spüren bekommen. Deutschland nicht. Mit den USA und Israel gehört die Bundesrepublik zu denen, für die es offiziell keinen Völkermord gab und keine »Armenier-Lüge« gibt. Die SPD fürchtet um ihre türkischen Wähler, die Republik

um den inneren Frieden mit den türkischen Bürgern. Auffällig geworden war der türkischen Botschaft jüngst nur Brandenburg. Als einziges Bundesland hatte es sich herausgenommen, die Massaker im Rahmenlehrplan für deutsche Geschichte überhaupt anzusprechen. Es war nur der winzige Klammersatz zum Thema »Entgrenzung von Kriegen; Ausrottung/Völkermord (z. B. Genozid an der armenischen Bevölkerung Kleinasiens)«, der gegen das Reinhaltegebot der türkischen Staatswahrheit verstieß. Generalkonsul Aydin Durusoy reiste nach Potsdam, »nur um die türkische Sicht auf die Vorgänge zu lenken«, sagt Botschafter Irtemçelik. Die ist zumindest für den Geschichtsunterricht so, dass der türkische Erziehungsminister seine Schuldirektoren am 14. April 2003 angewiesen hat, alle türkischen Grund- und Sekundärschüler zu verpflichten, die Ausrottung von Armeniern in Abrede zu stellen. Der Generalkonsul erreichte, dass die politische Führung des Landes Brandenburg mit seinen 295 türkischen Schülern in einem kleinlauten Akt der Selbstzensur den inkriminierten Klammertext zurückzog. Als daraufhin die armenischeBotschafterin Karine Karzinian betroffen in Potsdam vorsprach, sagte Ministerpräsident Matthias Platzek (SPD) zu, dass der Genozid an den Armeniern doch in den Schulbüchern verbleiben könne – in Zukunft flankiert von den Völkermorden in Kambodscha und Ruanda. Die kleine Bastonade der Brandenburger, gemildert durch die höflichen Umgangsformen der klassisch-osmanischen Diplomatie, war indessen nur eine Intervention von vielen in allen möglichen Ländern:

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In Deutschland musste im Sommer 2004 nach türkischem Einspruch die Aufführung des Dramas Beast on the Moon von den 17. Europäischen Kulturtagen in Karlsruhe abgesetzt werden. Das Stück von Richard Kalinoski erzählt, wie das Trauma des Völkermords die Überlebenden auch in der Diaspora nicht loslässt. Die Vereinigung amerikanischer Theaterkritiker hatte das Stück 1995 als bestes Drama ausgezeichnet. In Frankreich verabschiedete die Nationalversammlung im Januar 2001 eine Deklaration, die den Völkermord offiziell anerkannte. Unmittelbar danach zog die Türkei vorübergehend den Botschafter ab, rief zum Boykott französischer Produkte auf, stornierte Wirtschaftsaufträge an französische Unternehmen in Höhe von Hunderten Millionen Dollar. Taxifahrer sollten keine französischen Touristen, VIP-Lounges keine französischen Passagiere mehr aufnehmen. Der Schriftsteller Orhan Pamuk gilt als »Verräter« und wird bedroht. Israel bekam ebenso wie Brandenburg türkischen Druck zu spüren, als es die Massenmorde an den Armeniern in die Schulbücher aufnehmen wollte. Die Regierung ließ den Plan fallen. Zum israelischen Unabhängigkeitstag 2003 sollte eine armenische Nonne des Hadassah-Hospitals in Jerusalem ausgezeichnet werden, die sich um die Rehabilitation von Überlebenden der palästinensischen Selbstmordattentate verdient gemacht hatte. Ankara schritt ein, die israelische Regierung zensierte sich selbst. Aus der Programmbroschüre ließ sie die Zeilen entfernen, in denen es hieß, dass die Großeltern der Nonne Überlebende der Massenmorde waren. In den USA brachte türkischer Protest im Jahre 2000 eine Resolution des Kongresses zu Fall, in der die Ereignisse von 1915 als Völkermord eingestuft werden sollten. Präsident Clinton intervenierte in letzter Minute »wegen bedeutsamer nationaler Interessen«. Die türkische Regierung hatte gedroht, die Luftwaffenbasis Inçirlik für die USA zu schließen. Anfang der neunziger Jahre gelang es der türkischen Diplomatie im Verein mit Israel und jüdischen Interessenorganisationen in Amerika, die von Anfang an geplante Einbeziehung des Völkermords an den Armeniern in das Holocaust-Museum in Washington rückgängig zu machen. Der armenische Teil der Ausstellung war bereits in allen Details fertig. Edward T. Linenthal schrieb später in seinem Buch über das Holocaust-Museum: »… amerikanische Politiker zögerten nicht, zu erklären, dass dort, wo die Integrität einer historischen Erinnerung mit der Notwendigkeit kollidiere, einen Nato-Partner zu besänftigen, die Holocaust-Erinnerung eine Bürde sei, die man abwerfen sollte.«Das Europaparlament erklärte im Juni 1987, dass »die tragischen Ereignisse von 1915–1917 Völkermord sind im Sinne der von den Vereinten Nationen am 9. 12. 1948 angenommenen Konvention«. Eine Aufnahme der Türkei in die EU hänge auch vom türkischen Eingeständnis des Genozids ab. Allerdings sei die gegenwärtige türkische Regierung nicht verantwortlich zu machen. Aus der Anerkennung könnten keine politischen, rechtlichen oder materiellen Forderungen abgeleitet werden. Ankara gab sich dennoch empört und machte anschließend geltend, dass es bereits informelle Kontakte zu Armeniern auf der Ebene von Nichtregierungsorganisationen gebe. Die Europaparlamentarier waren zufrieden und strichen im Oktober 2001 den Passus, dass die Türkei für den Beitritt zur EU ihre Geschichte aufarbeiten müsse. Vor wenigen Tagen musste Orhan Pamuk, der türkische Schriftsteller von Weltruhm, seine lange geplante Lesereise durch Deutschland absagen. Der Autor hatte im Februar gegenüber dem Züricher Tagesanzeiger die Ansicht vertreten: »Man hat hier 30 000 Kurden umgebracht. Und eine Million Armenier. Und fast niemand traut sich, das zu erwähnen.« Die türkische Presse machte ihn als »Verräter« nieder; Pamuk und jene, die ihn verteidigten, erhielten Todesdrohungen. Der Schriftsteller sieht unter diesem Druck vorerst von öffentlichen Auftritten ab.

Es muss nicht einmal der Vorwurf des Völkermords sein, der den Nato-Partner reflexartig in die Vorwärtsverteidigung treibt. So beantragte jüngst die CDU/CSU-Fraktion mit der Drucksache 15 vom 22. Februar 2005, der Bundestag möge zum 90. Jahrestag der armenischen Opfer der staatlichen Gewalt gedenken und dabei auch die zweifelhafte Rolle des Deutschen Reiches bedauern. Gleichzeitig sollten die Abgeordneten dafür eintreten, dass sich die Türkei mit ihrer Rolle gegenüber dem armenischen Volk vorbehaltlos auseinander setzen werde. Obwohl die Antragsteller den Begriff Völkermord bewusst aussparten, konterte Botschafter Irtemçelik mit drohendem Unterton: »Wir möchten nicht hoffen, dass unsere Freunde in den Unionsparteien durch die plumpe Verleumdung der türkischen Geschichte beabsichtigen, insbesondere unsere hier lebenden Bürger zu beleidigen.« Niemand will das. Wenn historische Tatsachen türkische Bürger beleidigen, so liegt das leider daran, dass der Staat seiner Bevölkerung einen Teil ihrer Geschichte vorenthält. In der Türkei wächst heute die vierte Generation seit der armenischen Tragödie heran – eine Generation ohne Kenntnis über das Geschehen. Zwar versuchen die ersten mutigen Boten einer zivilen Bürgergesellschaft dem verdunkelten kollektiven Gedächtnis ein paar Lichter aufzustecken, die Armenier-Frage ohne Scheu vor Pressionen und Paragrafen zu diskutieren.

Doch steht dem die Staatsräson weiter entgegen. Einige Mittäter der Deportationen gehörten später der Regierung an. Je näher die Türkei an Kerneuropa heranrückt, desto größer wird damit die Kluft zwischen dem Gedächtnisverlust im eigenen Land und der Erinnerungskultur der westlichen Nachbarn. Nie zuvor ist so deutlich geworden wie in diesem Jahr, dass die EU unverfälschte Geschichte braucht, um Europas Werte zu verteidigen.

Zur Herausbildung und Rettung dieser Werte hat gerade die Türkei mehr als nur einen unvergesslichen Beitrag geleistet. Als die katholischen Spanier die Juden vertrieben, ließ das Osmanische Reich 1492 die Flüchtlinge ein. Viele der von der katholischen Kirche blutig verfolgten bosnischen Bogumilen traten auch deshalb zum Islam über, weil ihnen die Türken Sicherheit für Leib und Leben gewährten, mehr Toleranz in Glaubensdingen ohnehin. (Manche ihrer Nachfahren sind vor zehn Jahren in Srebrenica Opfer des jüngsten Völkermords in Europa durch »christliche« Serben geworden). Zu Recht schrieb Voltaire: »Das große türkische Volk regiert friedlich zwanzig Nationen mit verschiedenen Religionen; von ihm können die Christen lernen, wie man Zurückhaltung im Frieden und Edelmut im Sieg übt.« Und als die Türkei neutral blieb, im Zweiten Weltkrieg, konnten dennoch viele deutsche Emigranten dort Schutz und Auskommen finden. Wie konnte es 1915 zum Kulturbruch mit dieser Tradition kommen? Zuallererst: Es war nicht der Islam, dem die Armenier zum Opfer fielen. Viele Muslime versteckten ihre christlichen Nachbarn.

Der osmanische General Mahmud Kâmil sah sich sogar zu einem Dekret gezwungen, dass jeder Muslim, der einen Armenier verberge, vor seinem Haus aufgehängt werde. Die türkische Elite wurde von Verlustängsten geplagt. Das Osmanische Reich zerfiel, die Großmächte lauerten auf die besten Brocken. Ankaras offizielle Interpreten, die das »tragische Geschehen« der Kriegslage an der Kaukasusfront anlasten, erwähnen jedoch nicht, dass höchste türkische Militärjuristen die Frage nach Schuld und Sühne schon einmal völlig anders beantwortet haben. Am 3. März 1919 setzte Sultan Mohammed IV. den ersten Strafgerichtshof der Geschichte für die Aburteilung von »Verbrechen gegen die Menschheit« ein. Auf dieses Militärtribunal in Istanbul hatten zwar die Siegermächte England und Frankreich gedrängt. Doch im Gegensatz zu den Nürnberger Prozessen entschieden türkische Richter nach osmanischem Recht. Die Anklage wies alle Argumente zurück, dass die Kriegslage im Osten die Deportationen ausgelöst habe. Zum Beweis führten die Staatsanwälte die Verschleppungen der Armenier aus westtürkischen Städten an. Das Gericht stellte fest, dass weder militärische Zwänge noch Disziplinarmaßnahmen die Vertreibung diktiert hätten. Auch Ankaras heutige Erklärungen, dass die Archive der damaligen Regierung keinerlei Pläne oder Befehle zur Vernichtung enthalten und dass den osmanischen Beamten sogar Anweisungen zum Schutze der Umsiedler gegeben wurden, entkräftete das Tribunal schon 1919. Es wies nach, dass der Organisator der Deportationen, Innenminister Talaat Pascha, zur Geheimhaltung der Verantwortung eine Art doppelte Buchführung betrieb. In offiziellen Instruktionen an die Provinzialbehörden bestand er auf »Maßregeln zur Beschützung und Beköstigung« der »Auswanderer« und »strengen Bestrafungen« von »Räubereien«. Die entscheidenden Befehle jedoch ließ er von Sondergesandten überbringen. In einer dieser Mitteilungen, welche die Ankläger als Beweismittel vorlegten, hieß es: »Verschicken, das heißt im Sinne von vernichten« (≠evkiat, yani mahvetmek manasina).1919 gab es das Wort Völkermord noch nicht. Doch die Präambel der Anklage drückte es mit einem Synonym aus: »Ausrottung eines ganzen Volkes, das ein eindeutiges Gemeinwesen darstellte.« Wegen Massenmord wurden in den drei Istanbuler Verfahren 17 Todesurteile verhängt und drei von ihnen vollstreckt. Die Hingerichteten gelten heute als Helden. Die in Abwesenheit zum Tode verurteilten jungtürkischen Führer mit Innenminister Talaat und Kriegsminister Enver an der Spitze waren bereits Anfang November 1918 an Bord eines deutschen Schiffes geflohen. Talaat ließ sich in Berlin nieder. Im März 1921 erschoss ihn ein Student, der seine gesamte Familie auf dem Todesmarsch verloren hatte. Enver fiel im August 1922 in Mittelasien in einem Gefecht mit bolschewistischen Truppen.

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DIE ROUTEN DER TODESMÄRSCHE

Wie Vieh nach Osten und Süden getrieben

Der Weg der Armenier in die Vernichtung begann im Frühjahr 1915. Bereits am 25. Februar hatte Kriegsminister Enver Pascha alle armenischen Soldaten entwaffnen und zur Zwangsarbeit verschicken lassen. In den Arbeitsbataillonen mussten sich die jungen Männer zu Tode schuften. Ende März begannen die ersten Deportationen aus dem Gebirgsort Zeytun. Vom 20. April an setzten sich die Bewohner des Armenier-Viertels in der Stadt Van verzweifelt zur Wehr. Zuvor hatte Dschevdet Bey, der Gouverneur von Van und Schwager des Kriegsministers, die lokalen armenischen Führer ermorden und Tausende Dorfbewohner der Umgebung massakrieren lassen. Ein Divisionskommandeur in türkischen Diensten, der Venezolaner Rafael de Nogales, wurde zum Augenzeugen dieser Massenmorde und nannte Dschevdet Bey einen »Todesengel der Armenier«. Die jungtürkische Regierung aber nutzte den provozierten Aufstand, um die geplanten Deportationen zu beginnen. Am 24. April – der den Armeniern heute als Trauertag dient – ließ sie 235 Repräsentanten der armenischen Elite in Istanbul verhaften, deportieren und später umbringen. Die ihrer Führung und der meisten waffenfähigen Männer beraubten Frauen, Kinder und Alten wurden vom Mai an wie Vieh nach Osten und Süden getrieben, viele unterwegs ausgeraubt, vergewaltigt, niedergemacht. Einer der ersten Hauptzielorte der Todesmärsche war Aleppo. Wer die Region überhaupt lebend erreichte, kam in Sammellager und musste sich weiter in die Wüsten der syrischen und irakischen Provinzen schleppen. Der Theologe Johannes Lepsius, der die Türkei im Sommer 1915 bereiste, schrieb: »Auch am Ende des Todesweges ließ man ihnen keine Ruhe, trieb sie wochenlang im Kreis herum.« So fanden zumindest eine Million Armenier den Tod – und viele nicht einmal ein Grab im Staub der Straßen und Wüsten.

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Armin T.Wegners Aufnahmen entstanden auf dem Marsch von Konstantinopel nach Bagdad. – Eine armenische Flüchtlingsfamilie auf der Straße

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  • 4 недели спустя...

Вот из статья из Шпигеля (самый уважаемый немецкий журнал): кому интересно, может быть Картезиус переведет. Взгляд на проблему со стороны,

так смотрит большинство непричастных.

http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,352917,00.html

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Вот из статья из Шпигеля (самый уважаемый немецкий журнал): кому интересно, может быть Картезиус переведет.

Почему сам не переведешь? :hammer:

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Нет твоего мастерства, извиняй. :no:

Спасибо Мотте за протокол, очень инересно и подтверждает, что я в своем мнении не одинок: зеленые его разделяют, да и Будестаг их поддержал.

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  • 2 недели спустя...

Доклад д-ра Райнхарда Никиша 25. апреля 2005-го года в общине церкви святого Якова в Геттингене.

Dr. Reinhard M. G. NICKISCH

UNGESÜHNT:

Über den vergessenen Völkermord an den christlichen Armeniern

im Schatten des I. Weltkriegs

Zwei Gedankenspiele

Erlauben Sie mir, Ihnen einleitend zwei etwas gewagte Gedankenspiele vorzuführen:

Gedankenspiel 1: Man stelle sich vor, die türkische Presse hätte gestern, am 24. April, dem Tag, an dem die Armenier auf der ganzen Welt der Opfer des Genozids von 1915/16 gedenken, gemeldet:

SENSATION IN ANKARA! TÜRKISCHES KABINETT BESCHLIESST ERRICHTUNG EINES HOLOCAUST-DENKMALS IN ISTANBUL. Anläßlich der 90. Wiederkehr des Tages, an dem in Konstantinopel der Völkermord an den Armeniern innerhalb der Grenzen des Osmanischen Reiches begann, hat das türkische Kabinett beschlossen: Mit einem würdigen Monument soll der eineinhalb Millionen armenischer Landsleute gedacht werden, die auf Betreiben der jungtürkischen Regierung in den Jahren 1915/16 vertrieben, deportiert und umgebracht wurden. An den Orten der Todeslager sollen Gedenkstätten eingerichtet werden. Die Regierung in Ankara will für das Mega-Verbrechen bei den in unserem Lande, in der Republik Armenien und in der weltweiten Diaspora lebenden Armeniern Abbitte leisten. Sie verspricht moralische und materielle Wiedergutmachung an den Nachfahren der Ermordeten, indem sie geraubtes Eigentum zurückgibt oder aber finanzielle Entschädigung dafür leistet und die im Verlaufe des Genozids und später zerstörten armenischen Kirchen und Klöster auf Staatskosten wiederherstellt. Die Leugnung des großen Verbrechens wird unter Strafe gestellt. In den schulischen Geschichtsbüchern soll der Völkermord sachgetreu dargestellt werden. Die Regierung bedauert, dass Verantwortliche und Täter nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden können. Der 24. April soll künftig in der ganzen Türkei als Gedenktag begangen werden. .Mit der uns benachbarten Republik Armenien streben wir freundschaftliche Beziehungen an.

Was ich hier als sensationelle Pressemeldung ausgegeben habe, ist leider eine ,Ente', wie die Presseleute sagen. Eine derartige Meldung wäre zu schön, um wahr zu sein. In Wahrheit nämlich denkt die derzeitige türkische Staatsführung, ebensowenig wie alle früheren seit 1919, nicht im Traum daran, auch nur ein Bruchteil von all dem zu tun, was ich hiervor als fingierte Sensationsmeldung formuliert habe.

Gedankenspiel 2: Man stelle sich vor:

Deutschland erkennt den Massenmord an den europäischen Juden nicht an, sondern leugnet ihn rundweg. Es weigert sich, für die Überlebenden und die Nachfahren der Ermordeten Wiedergutmachungsleistungen zu erbringen. Die Leugnung des Holocausts wird nicht bestraft, sondern als freie Meinungsäußerung gebilligt. Verantwortlichen und Tätern, die noch leben, wird Straflosigkeit gewährt. Die im Ausland erhobene Forderung, Gedenkstätten in den ehemaligen Vernichtungslagern zu errichten, wird entschieden zurückgewiesen. Jüdisches Eigentum bleibt in deutschem Besitz. Die Ausübung der jüdischen Religion wird eingeschränkt. In- und ausländische Personen, die den Holocaust öffentlich als historisches Faktum hinstellen, werden von Staats wegen mit Strafe bedroht. Staaten, die Deutschland wegen seiner Nicht-Anerkennung des Holocausts anprangern, werden von den diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik so lange unter Druck gesetzt, bis sie jede Kritik unterlassen.

Wenn all dies im Nachkriegsdeutschland geschehen wäre oder noch geschähe - würde unser Land dann als geachteter demokratischer Rechtsstaat Mitglied des vereinigten Europa sein, so wie es seit Jahrzehnten der Fall ist? Unvorstellbar - werden Sie sagen. Und hätte man Deutschland je abgenommen, dass es ein glaubwürdiges Mitglied der Wertegemeinschaft sein kann, welche die EU von Beginn an darstellte? Unvorstellbar - werden Sie sagen. Vorstellbar aber ist sehr wohl, dass die Türkei in absehbarer Zeit Mitglied dieser Gemeinschaft wird - ein glaubwürdiges allerdings wohl kaum, wenn sie ihre hartnäckig geleugnete mörderische Vergangenheit, die mit der Deutschlands durchaus vergleichbar ist, nicht anerkannt und bewältigt hat.

Stationen der Vorgeschichte des Völkermords von 1915/16

In seinem autobiographischen Essay ,Die Feuerkugel' (1966) erzählt der Dichter Armin T. Wegner (1886 - 1978) von einem Schlüsselerlebnis aus seiner Kindheit:

"Im Jahre 1895<...>, als ich neun Jahre zählte, trat ich eines Sonntagmorgens an den Frühstückstisch meiner Eltern. Die Eltern <...>hatten das Zimmer verlassen. Auf dem Platz des Vaters lag eine aufgeschlagene Zeitung, fettgedruckte Buchstaben darin zogen mich an. Das Blatt berichtete von dem Gemetzel, das der türkische Sultan Abdul Hamid der Zweite durch kurdische Freischärler in Kleinasien wie in einem Schlachthause anrichtete. Bisher hatte ich nie von diesem Volke gehört <...>. Wer diese Leute auch sein mochten, Menschen waren es gleich mir, meinen Eltern, Geschwistern und den Bewohnern der kleinen schlesischen Stadt Glogau, in der ich aufwuchs, Mütter, Väter, Mädchen, Knaben, Säuglinge und Greise. Zehntausende hatte man aus ihren Dörfern und Städten vertrieben, beraubt, erschlagen. Ich las, dass man Frauen in einem Bade überfiel, eine Gemeinde in ihrer Kirche verbrannt wurde. Ein kurdischer Schlächter hatte Leichen von Armeniern zerlegt, um sie zum Spott den Vorübergehenden zum Kaufe anzubieten. Wie das Traumgesicht eines Riesen, der vielleicht Gott selbst war, der mit dem Daumen über die Erde fahrend Tränen und Blut der Menschen wie zerdrückte Fliegen auf den Feldern und an den Berghängen Kleinasiens zusammenstrich, erhob sich aus den Zeilen der Zeitung vor dem preußischen Schulknaben das Bildnis des Grauens. Gleich einer Feuerkugel, dem Stück eines schweifenden Sternes am Himmel war die schreckliche Kunde von den Bergen Anatoliens bis in unser Land und in den Brunnen meines Herzens gefallen." (Wegner <1>, S. 17)

Das Schicksal des armenischen Volkes wird Wegner in seinem späteren Leben nicht mehr loslassen.

Der Zeitungsbericht, dessen Lektüre den Knaben so sehr aufwühlte, bezog sich auf die sog. Armenier-Greuel, die Abdul Hamid zwischen 1894 und 1896 in Konstantinopel, den anatolischen und kilikischen Provinzen veranlasste. Den Massakern fielen insgesamt wohl fast 300.000 Armenier zum Opfer. 180.000 flohen nach Transkaukasien, nach Europa und in die Vereinigten Staaten. Zweieinhalbtausend armenische Dörfer wurden verwüstet oder zerstört, Kirchen und Klöster geplündert oder niedergebrannt,. der Besitz der ins Ausland Geflüchteten beschlagnahmt und an Muslime verteilt.

Die Armenier waren mit etwa zwei Millionen Menschen die größte andersgläubige und -sprachige Minorität im islamischen Reich des Sultans, während die in der transkaukasischen Region lebenden Armenier 1828 unter russische Herrschaft geraten waren. In der Hauptstadt Konstantinopel wohnte eine halbe Million von ihnen, die meisten aber waren im östlichen Anatolien und in Kilikien beheimatet. Sie gehörten vorwiegend der apostolischen Kirche an. Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts hatte sich bei diesem alten christlichen Kulturvolk, deren Angehörige der türkische Staat als Bürger zweiter Klasse behandelte, ein rasch stärker werdendes nationales Bewusstsein entwickelt. Die Armenier forderten die rechtliche Gleichstellung mit den türkischen Untertanen. Entsprechende 1878 im Berliner Friedensvertrag von der Hohen Pforte zugesagte Reformen wurden indes nur bruchstückhaft realisiert oder aber verschleppt und hintertrieben.

Die europäischen Großmächte jedoch unternahmen nichts Wirksames, um die Einlösung der türkischen Zusagen durchzusetzen. Viele Armenier in den Ostprovinzen litten außerdem derart unter den von Regierung und Behörden stillschweigend gebilligten Räubereien und Mordtaten muslimischer Kurden, dass sie sich entschlossen, vom Land in die Städte oder gar ins europäische Ausland zu emigrieren.

Die fortdauernde willkürliche Benachteiligung begünstigte bei den Armeniern die Entstehung einer geheimen revolutionären Bewegung. Allerdings fand diese nur bei recht wenigen ihrer Landsleute Zustimmung. Dennoch benutzte die türkische Staatsführung das Vorhandensein und die Aktivitäten der kleinen radikalen Gruppe als willkommenen Vorwand für die Verwirklichung einer schon lange gehegten Absicht: nämlich die ,Armenier-Frage' durch die Auslöschung dieses alten Kulturvolkes zu lösen. Die gräulichen massenhaften Massaker zwischen 1894 und 1896 waren ein erster großer Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel.

Den zahlreichen Europäern, Amerikanern und Russen, die für die tödlich bedrohten Armenier eintraten und an Europas humanes Gewissen appellierten, gelang es nicht, die Politik ihrer Länder gegenüber dem Sultan zugunsten der verfolgten Armenier wirksam zu beeinflussen. Vielmehr ließen die europäischen Großmächte aus eigensüchtigen politischen Gründen die christlichen Armenier schändlich im Stich.

Da begannen diese Widerstandsgruppen zu bilden. Die Daschnak-Partei z. B. agierte kämpferisch in allen drei Staaten, in denen bedrängte Armenier lebten: in der Türkei, in Russland und in Persien. Die Lage der Armenier im Imperium des Sultans verschlimmerte sich nach 1900 entscheidend dadurch, dass sie und andere nicht-türkische Minderheiten sich mit den neu aufkommenden panislamischen und -türkischen Ideen und Bestrebungen konfrontiert sahen.

Der pantürkische Gedanke fand auch zunehmend Anklang bei den osmanischen Liberalen, die ins europäische Exil ausgewichen waren. Aus ihren Reihen gingen die sog. Jungtürken hervor. Sie wollten den Sturz des Sultans herbeiführen und dessen heruntergekommenes absolutistisches Herrschaftssystem abschaffen. Mit diesen Zielen des jungtürkischen ,Komitees für Einheit und Fortschritt' stimmten die revolutionär denkenden Armenier anfangs überein.

Den Jungtürken gelang es 1908 in der Tat, die Macht in der Türkei zu übernehmen und den Sultan politisch kaltzustellen. Mehmed V., Abdul Hamids Nachfolger, hatte kaum mehr politischen Einfluß. Die tatsächliche Macht verblieb bis zum Ende des Osmanischen Reiches bei einem Triumvirat, das aus den Jungtürken Enver Pascha, Talat Pascha und Cemal Pascha, den Exponenten eines zwölfköpfigen Zentralkomitees, bestand. Die innere Entwicklung in der Türkei während der jungtürkischen Ära bis zum Ausbruch des I. Weltkriegs ist gekennzeichnet von dem Erstarken einer nationalistisch-pantürkischen Ideologie, des sog. Turanismus. Dieser entwickelte sich rasch in Richtung auf einen wahnhaften Rassismus hin, der entschlossen ignorierte, dass es im ottomanischen Reich überaus zahlreiche nicht-türkische minoritäre Ethnien gab. Die Turanismus-Anhänger aber wollten einen rein türkischen Nationalstaat.

Die neue ideologische Anschauung bedrohte besonders die nicht-islamischen Armenier. Die Spannungen zwischen Türken und Armeniern wurden von den korrupten türkischen Verwaltungs- und Steuerbehörden noch angeheizt. So kam es im südostanatolischen Kilikien schon ein Jahr nach dem jungtürkischen Militärputsch zu dem überaus grausamen Massaker von Adana, bei dem 20.000 bis 30.000 Armenier ihr Leben verloren und die aufgestachelte türkische Bevölkerung zweihundert armenische Dörfer zerstörte. Die jungtürkischen Machthaber distanzierten sich nur halbherzig davon. Ihnen lag mehr daran, dem Ausland gegenüber Ausmaß und Bedeutung des Verbrechens abzuschwächen und es dem entmachteten Sultan zuzuschieben.

Auch in den Jahren bis zum Ausbruch des I. Weltkriegs hörten die Übergriffe von Türken und Kurden in den ländlichen Provinzen nicht auf. Die Jungtürken, seit 1913 nahezu diktatorisch herrschend, waren offenkundig nicht gewillt, ernsthaft dagegen einzuschreiten. Daher setzten die drangsalierten Armenier abermals auf die Hilfe und Unterstützung der europäischen Staaten. Deren Hauptinteresse war jedoch darauf gerichtet, den ,kranken Mann am Bosporus' bei nächster Gelegenheit zu beerben.

Anfang 1914 schienen die Dinge indes eine günstige Wendung für die Armenier zu nehmen. Die Großmächte Europas übten nämlich gemeinsam auf die jungtürkische Staatsführung Druck aus und schlossen im Februar 1914 ein Abkommen, das eine weitgehende administrative Autonomie der Türkisch-Armenier vorsah. Die Jungtürken befürchteten freilich, dass eine solche Autonomie die türkische Souveränität zu sehr einschränken könnte. Trotzdem schien sich zunächst sogar eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Russland und der Türkei abzuzeichnen - eine Entwicklung, die den Armeniern zugute gekommen wäre. Dann jedoch veränderte sich die allgemeine politische Großwetterlage radikal. Die Spannungen zwischen den europäischen Mächten verschärften sich derart, dass ein großer Krieg immer wahrscheinlicher wurde. Er brach im Spätsommer 1914 aus. Nur wenige Monate später erklärten die Entente-Mächte der mit den Mittelmächten Deutschland und Österreich-Ungarn verbündeten Türkei den Krieg. Die Lage der Türkisch-Armenier, die auf eine neutrale Haltung ihres Landes gehofft hatten, wurde bald bedrohlich. Denn den nunmehrigen Kriegszustand nutzte das jungtürkische Zentralkomitee sogleich dazu aus, um Maßnahmen im Sinne seiner nationalistisch-pantürkischen Pläne vorzubereiten.

Der Verlauf des Genozids

Ende Januar 1915 ließ Enver Pascha, nach der katastrophalen Niederlage einer von ihm geführten Armee gegen die Russen, die im türkischen Heer dienenden armenischen Soldaten entwaffnen. Sie wurden erst zu Arbeitssklaven der Armee gemacht, dann nach und nach an entlegene Orte verbracht und insgeheim ermordet. Zur gleichen Zeit etwa (sehr wahrscheinlich aber schon erheblich früher) muß das jungtürkische Zentralkomitee die vollständige Eliminierung des armenischen Bevölkerungsteils beschlossen haben, denn bereits Ende März begann man mit ersten Deportationen der Armenier aus der Stadt Zeytun.

Nicht-türkische Historiker haben, trotz der ausgeklügelten Geheimhaltungsmaßnahmen, mit denen die Jungtürken ihre Absichten verschleierten, verlässlich nachweisen können, dass der 1915/16 exekutierte Völkermord von der Staatsführung in Konstantinopel genau geplant und vorbereitet wurde. (Ausländischen Forschern allerdings verwehrt die Türkei bis heute unter Vorwänden den Zugang zu den wichtigsten einschlägigen Archiven und Dokumenten der Hohen Pforte.)

Wie sah der jungtürkische Ausrottungsplan aus ?

Die christlichen Armenier sollten aus ihren angestammten Wohnsitzen vertrieben und in die lebensfeindliche mesopotamische und syrische Wüste ,umgesiedelt' werden. Dabei musste verhindert werden, dass Überlebende die Vernichtung ihres Volkes bezeugen könnten. Es musste auch dafür gesorgt werden, dass Ausländer möglichst keine Informationen erhielten. Mit der Durchführung der umfassenden ,Umsiedlungsaktion' wurde eine ,Sonderorganisation' betraut, die sich dazu der ihr untergeordneten Verwaltungsbeamten, der Gendarmerie, kurdischer Banden und irregulärer Milizen als Hilfsgendarmen (der sog. Tschettes) bedienen sollte. Besitz und Geld der Deportierten sollten an die Regierung fallen oder aber der Lohn der Mörder werden. Vor der Deportation mussten die Armenier zur Ablieferung sämtlicher Waffen gezwungen werden. Die Deportationen sollten im wesentlichen zu Fuß und abseits von öffentlichen Verkehrswegen erfolgen. Die Organisatoren der ,Umsiedlung' rechneten fest damit, dass sich die Zahl der Vertriebenen schon unterwegs entscheidend verringern würde - durch Durst, Hunger, Beraubung, Misshandlung und immer wieder neue Metzeleien. Durch ständige Verlegung der Lager der Deportierten im Wüstengebiet selbst sollten die Überlebenden weiter dezimiert werden. Allen Türken und Kurden, die sich an den Räubereien, Misshandlungen und Mordtaten beteiligten, war von vornherein Straflosigkeit zugesichert.

Der Plan kam im April 1915, dem "tragischsten Monat der armenischen Geschichte" (Ternon, S. 176), zur Ausführung. Der Auftakt zu der Durchführung der Deportationen war eine Polizeiaktion gegen mehr als sechshundert Angehörige der armenischen Oberschicht in Konstantinopel am 24. April 1915. Ihre Verbannung nach Kleinasien überlebten die allermeisten Festgenommenen nicht. So wurde die kulturelle armenische Führungsschicht ausgeschaltet.

Ende Mai erging an die maßgeblichen türkischen Beamten und Behörden in den östlichen Provinzen die Weisung, mit der Deportation sämtlicher Angehöriger des armenischen Bevölkerungsteils unverzüglich zu beginnen. Die vereinzelte Gegenwehr von Armeniern gegen willkürlich herbeigeführte Provokationen in einigen Regionen diente u. a. als willkommener Vorwand für die Austreibung der christlichen Minderheit.

Die von Talat Pascha, dem Minister des Inneren und späteren Großwesir, angeordneten Maßnahmen wurden von den zuständigen türkischen Organen vor Ort in den folgenden vier Monaten zielstrebig und unerbittlich realisiert. Bis zum August 1915 wurde der größte Teil der armenischen Bevölkerung aus seinen Heimatorten vertrieben und in Richtung Mesopotamien deportiert. Dort, wo die Vertreibungsopfer sich wehrten, konnten sie ihr Schicksal nur verzögern, nicht jedoch abwenden. Glück hatte nur die überwiegend von Armeniern bewohnte ostanatolische Stadt Van, die sich bereits Mitte Mai (später unterstützt von den rechtzeitig vorrückenden Russen) mit Erfolg zur Wehr setzte. Die zaristische Armee musste sich allerdings Ende Juli zurückziehen. Das konnten an die 300.000 Armenier, die sich dem Rückzug hastig anschlossen, dazu nutzen, sich in das russische Transkaukasien zu flüchten.

Insgesamt wurden nahezu zwei Drittel der in den sieben östlichen Provinzen lebenden 850.000 Armenier deportiert und großenteils massakriert. An die 200.000 Frauen und Kinder wurden entführt und zwangsislamisiert. Damit war die Hälfte der armenischen Bevölkerung in der Türkei bereits ausgelöscht, bevor die Deportierten-Konvois ihr Ziel - die Todeslager am Rande der Wüsten - überhaupt erreichten. In Aleppo, wo sich das wichtigste dieser Lager befand, kamen z. B. nur noch 50.000 lebend an. Ein anderes Ziel- und Todes-Lager, Der Sor am Euphrat in der mesopotamischen Wüste (heute in Syrien gelegen), wurde für die Armenier zum Begriff für das, was für die Juden der Name Auschwitz bedeutet.

Überhaupt sind Parallelen zum Vorgehen der SS bei der späteren Vernichtung der europäischen Juden bemerkenswert: "Deportationen in Kriegszeiten; Vernichtung durch Arbeit; Todesmärsche; Aufhetzung fremder Völker zum Massaker an den Verfolgten; ,natürliche Dezimierung' durch Wetterunbilden und Seuchen; schamlose Bereicherung am Nachlaß der Vertriebenen; Einrichtung von Konzentrationslagern." (DIE ZEIT Nr. 50, 7. 12. 1984, S. 18)

Obwohl die türkische ,Endlösung' vom jungtürkischen Regime bürokratisch-genau geplant worden war, verlief die Durchführung größtenteils chaotisch. Vor allem gelang es den Exekutoren nicht, zu verhindern, dass es Überlebende und damit Zeugen der unsäglichen Greuel gab. Den Augen auch von ausländischen Zeugen blieb insbesondere nicht verborgen, was in dem Todeslager am Rande der Stadt Aleppo geschah. Diese war der vorläufige Zielort aller Deportationszüge, von dem aus aber die Ankommenden teils nach Süden - die syrische Wüste -, teils nach Osten - die mesopotamische Steppe - von den brutalen Begleit-Mannschaften weitergetrieben wurden, weil sie angeblich ihre ,Exilorte' noch nicht erreicht hätten. Talat spekulierte darauf, dass die Vertriebenen bereits unterwegs so dezimiert würden, dass kaum noch welche die ,Siedlungsgebiete' in den Wüsten erreichten. Auf dem Wege dahin gab es immer wieder Massentötungen, bei denen Tausende niedergemetzelt wurden. Die Mörder warfen die Leichen in Schluchten und Flüsse, oder sie ließen sie am Wege liegen, den Raubtieren zum Fraß.

Wohl niemand hat das Vernichtungswerk der entmenschten Mörder und die Leiden der gepeinigten Opfer so eindringlich und erschütternd geschildert wie der deutsche expressionistische Dichter und Augenzeuge Armin T. Wegner:

"Aus ihren Wohnsitzen, die sie länger als zweitausend Jahre innehatten, aus allen Teilen des Reiches, aus den steinernen Pässen des Hochgebirges bis an die Küste der Marmara und der Palmenoasen des Südens, trieb man sie (...) mit der Entschuldigung, die jedem menschlichen Empfinden Hohn spricht, nichts zu tun, als ihnen andere Wohnsitze anzuweisen; metzelte die Scharen ihrer Männer in Massen nieder, stürzte sie, mit Ketten und Seilen aneinandergefesselt in den Fluß, rollte sie mit gebundenen Gliedern die Berge hinab, verkaufte ihre Frauen und Kinder auf den öffentlichen Märkten oder hetzte Greise und Knaben unter tödlichen Bastonaden auf die Straßen zur Zwangsarbeit. Nicht genug damit, seine verbrecherischen Hände so für alle Zeit beschmutzt zu haben, jagte man das Volk, seiner Häupter und Wortführer beraubt, aus den Städten, zu jeder Stunde des Tages und der Nacht halb nackt aus den Betten, plünderte seine Häuser, verbrannte die Dörfer, zerstörte die Kirchen oder verwandelte sie in Moscheen, raubte sein Vieh, nahm ihnen Esel und Wagen, riß ihnen das Brot aus den Händen, die Kleider von den Gliedern, das Gold aus den Haaren und aus dem Mund. Beamte, Offiziere, Soldaten, Hirten, wetteiferten in ihrem wilden Delirium des Blutes, schleppten die zarten Gestalten der Waisenmädchen zu ihrem tierischen Vergnügen aus den Schulen, schlugen mit den Knüppeln auf hochschwangere Weiber oder Sterbende ein, die sich nicht weiterschleppen, bis die Frau auf der Landstraße niederkommt und verendet und der Staub sich unter ihr in einen blutigen Schlamm verwandelt."

"Kinder weinten sich in den Tod, Männer zerschmetterten sich an den Felsen, Mütter warfen ihre Kleinen in die Brunnen, Schwangere stürzten sich (...) in den Euphrat. Alle Tode der Erde, die Tode aller Jahrhunderte starben sie." (Off. Brief, 23. 2. 1919; s. Wegner <2>)

Die Anordnung Talats, die Deportationen und Vernichtungsaktionen möglichst geheim zu halten, erwies sich ebenso wie das Verbot der Veröffentlichung von Fotografien als illusorisch. Zeugen des abscheulichen Geschehens waren nicht nur einzelne überlebende Armenier, sondern wurden auch zahlreiche Ausländer, vor allem Angehörige deutscher Militäreinheiten. Dem mutigen Dichter und Sanitäts-Offizier Wegner, der dem Stabe des Feldmarschalls Colmar von der Goltz angehörte, gelang es, heimlich Hunderte von Fotos in den Todeslagern von Aleppo und Meskene zu machen. Auch Missionare, Ärzte, Krankenschwestern, Lehrer, Konsularbeamte und Journalisten verschiedener Nationalität sowie deutsche Ingenieure der noch im Bau befindlichen Bagdad-Bahn hatten Gelegenheit zu beobachten, was in ihrer Nähe Entsetzliches vor sich ging. Die deutsche Reichsführung war durch Nachrichten und Berichte deutscher Konsularbeamte über alle grauenhaften Details des im Gange befindlichen Völkermords unterrichtet. Aber sie unternahm absolut nichts, um dem Verbündeten in den mordenden Arm zu fallen.

Die Deportationen dauerten bis Dezember 1915. Ein Jahr später war der "Genozid an den Türkisch-Armeniern praktisch vollendet." (Ternon, S. 207) Einzelne türkische Beamte und Militärs, die den Befehlen Talats nicht Folge leisten wollten, wurden versetzt, entlassen oder, wie manche hilfsbereite türkische Untertanen, hart bestraft. Wie groß am Ende die Zahl der Opfer des organisierten Mega-Pogroms war, ist umstritten. Armenischen Angaben zufolge waren es mehr als anderthalb Millionen. Andere - vor allem türkische - Angaben bleiben teilweise erheblich darunter. Doch bestreitet kein ernsthafter nicht-türkischer Forscher, dass es mindestens über eine Million Menschen armenischer Volkszugehörigkeit waren bzw. zwei Drittel der Türkisch-Armenier, die dem grausamen Versuch des jungtürkischen Regimes, ein ganzes Volk systematisch auszulöschen, zum Opfer gefallen sind. Und vielen, die überlebten, war ein Los beschieden, das wenig besser war als die Tötung: Es betraf vor allem Kinder und jüngere Frauen, die verschleppt, in Harems oder in die Sklaverei verkauft wurden. An die 300.000 wurden gezwungen, zum Islam überzutreten. Dem schrecklichen Schicksal, das die Jungtürken den christlichen Armeniern zugedacht hatten, entgingen nur diejenigen, denen zwischen 1914 und 1921 die Flucht nach Russisch-Armenien glückte. Das mögen etwa 420.000 Menschen armenischer Volkszugehörigkeit gewesen sein.

"Schuld und Verantwortung" (Ternon)

Die UNO hat 1948 Genozid als eine strafbare Handlung definiert, die darauf abzielt, "eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten." (Zit. n. Hofmann, S. 133) Das Vorgehen der Jungtürken gegen die Armenier ist kongruent mit dieser Definition. Es war überdies ein Verbrechen gegen die Menschheit und ein sog. internationales Staatsverbrechen, das völkerrechtlich unverjährbar ist.

Die unmittelbare Verantwortung für den ersten planmäßig durchgeführten Völkermord im 20. Jahrhundert ist erwiesenermaßen der jungtürkischen Regierung und in besonderem Maße ihrem Innenminister Talat Pascha sowie der ihm zuarbeitenden ,Sonderorganisation' zuzurechnen. Die hohen Ränge der Jungtürken bereicherten sich zudem in maßloser Gier an dem materiellen Nachlaß der vertriebenen und massakrierten Armenier. Talat mit seinem kriminellen Vernichtungswillen könnte einem Heydrich oder Eichmann als Vorbild gedient haben. Nicht-türkischen Forschern sind genügend Dokumente bekannt geworden, die Talats Verantwortung belegen - z. B. sein Telegramm vom 15. 9. 1915 an die Präfektur in Aleppo, in welchem es heißt: "Wie bereits mitgeteilt, hat die Regierung <...> die Ausrottung aller in der Türkeit lebenden Armenier beschlossen. Beamte, die sich dieser Entscheidung und diesem Befehl widersetzen, sind aus dem Dienst zu entfernen. So tragisch das Verfahren und die anzuwendenden Mittel auch sein mögen: Der Existenz der Armenier muß ohne Gewissenszweifel und ohne Rücksicht auf Frauen, Kinder und Kranke ein Ende gesetzt werden." (Zit. bei Ternon, S. 200)

Eine Mitschuld an dem Großverbrechen tragen aber sowohl das Deutsche Reich wie auch die Entente-Mächte, weil die Regierungen dieser Staaten das furchtbare Geschehen nicht ernsthaft behinderten, sondern hinnahmen, beschwiegen, verharmlosten und verdrängten. Die maßgeblichen deutschen Militärs in der Türkei billigten sogar ganz überwiegend das Vorgehen der türkischen Machthaber gegen die Armenier. Dabei hätte vor allem die deutsche Reichsführung über hinreichende Möglichkeiten verfügt, auf die Türkei durch politisch-diplomatische Druckmittel mäßigend einzuwirken. Da die europäischen Mächte aber insgeheim Pläne für eine Aufteilung der Türkei nach deren wahrscheinlicher militärischen Niederlage verfolgten, war es für sie eher von Vorteil, wenn die Hohe Pforte noch vor dem Kriegsende das lästige Armenier-Problem ,erledigte'.

Einzelne ausländische Diplomaten unternahmen verschiedene Demarchen, um das Weltgewissen wachzurufen. Und auch einige wenige deutsche Konsularbeamte und Militärs, die Reichstagsabgeordneten Karl Liebknecht und Matthias Erzberger sowie andere Persönlichkeiten (wie die Großherzogin Luise von Baden) drängten die kaiserliche Regierung, sie solle die verbündeten Jungtürken von ihrem mörderischen Tun abbringen. Schon im Oktober 1915 unterrichtete der Orient-Missionar Johannes Lepsius, der die Deportationen und Massaker vor Ort genau hatte beobachten können, zahlreiche Reichstagsabgeordnete in Berlin. 1916 veröffentlichte er einen umfassenden dokumentarischen Bericht in hoher Auflage, dessen Verbreitung allerdings umgehend durch die Militärzensur unterbunden wurde. (Auch der deutschen Presse wurde es verboten, über das verbrecherische Vorgehen der Türkei zu berichten.). Da jedoch alle Interventionen Einzelner die europäischen Regierungen nicht dazu zu bewegen vermochten, tatkräftig zu handeln, ließen sich Talat Pascha und seine Helfershelfer nicht beeindrucken und führten bis Anfang 1917 gnadenlos zu Ende, was sie im April 1915 begonnen hatten - zumal sie von einigen hochrangigen deutschen Offizieren bei ihren unmenschlichen Aktionen gegen die Armenier nachgerade unterstützt wurden.

So erledigte sich die Armenier-Frage auch für die Entente-Mächte. Sie spielte bei ihren Geheimverhandlungen, in denen es um die spätere Aufteilung der Türkei ging, keine Rolle mehr, da ja die Türken fast die ganze armenische Ethnie inzwischen ausgerottet hatten. Bei dem Genozid waren die Entente-Staaten "eher Zuschauer als Komplizen" (Ternon, S. 228) gewesen - nun brauchten sie die Zukunft Armeniens nicht mehr wirklich ins politische Kalkül zu ziehen; denn eine nennenswerte armenische Bevölkerung innerhalb der Grenzen der Türkei existierte kaum mehr.

Stationen der Nachgeschichte des Völkermords

Die siegreichen Bolschewiken in Russland erkannten als erste den Anspruch der Armenier auf Selbstbestimmung an. Eine Verwirklichung dieses Anspruchs jedoch war ihnen auch nach der Niederlage des Osmanischen Reiches und dem Rücktritt der jungtürkischen Regierung (sie floh Anfang November 1918 auf einem deutschen Schiff) nicht beschieden. Schon lange vorher hatten die Armenier, von den sich zurückziehende russischen Truppen im Stich gelassen, im Kampf mit überlegenen türkischen Verbänden schwere Niederlagen und Verluste hinnehmen müssen. So stand die 1918 ausgerufene Armenische Republik auf schwachen Füßen. Den Fall von Baku bezahlten die Armenier nochmals mit vielen tausend Opfern.

Anfang 1919 übermittelte die 1914 von Lepsius gegründete Deutsch-Armenische Gesellschaft dem amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson in Paris einen beschwörenden Offenen Brief Wegners. Darin führte der Expressionist Wilson die Leiden des armenischen Volkes wortmächtig vor Augen. Auf der Pariser Friedens-Konferenz von 1919 setzte sich der amerikanische Präsident als einziger führender Staatsmann mit Nachdruck für Armenien ein. Im Friedensvertrag von Sèvres vom August 1920 wurde Armenien von der Türkei und den alliierten Siegern als freier, unabhängiger Staat anerkannt. Doch dieser ,Staat' sollte nur sehr kurze Zeit Bestand haben. Denn der Aufstieg des fanatischen türkischen Nationalisten und Rassisten Mustafa Kemal ist u. a. mit seiner erfolgreichen Ausschaltung des neuen armenischen Staates verknüpft.

Kemal sah in ihm eine ,schwärende Eiterbeule' "im Körper unseres Landes". (Zit. bei Ternon, S. 234) Schon im September 1920 befahl er einer großen türkischen Armee den Angriff auf die Armenische Republik. Der Sieg der Türken kostete die verzweifelt kämpfenden Armenier nochmals nahezu 200.000 Tote. Mit der Tötung nicht nur von Männern, sondern auch von Frauen und Kindern setzten die Kemalisten fort, was ihnen Abdul Hamid und die Jungtürken vorgemacht hatten. Als Kemal im September 1922 nach seiner Eroberung Smyrnas außer den griechischen auch die armenischen Bewohner der großen Hafenstadt niedermetzeln oder deportieren ließ, hatte er den Völkermord an den Armeniern in der Tat vollendet. Schon 1923 amnestierten die Kemalisten alle an dem Verbrechen Beteiligten. Ja, die "großen und kleinen Verantwortlichen für den ersten Völkermord" des 20. Jahrhunderts "wurden die wichtigste Stütze des kemalistischen Systems." (Gust, S. 292)

Kemal erreichte praktisch eine Wiederherstellung der Türkei in den Grenzen von 1878. Dementsprechend verlangte er von den Siegermächten des I. Weltkriegs eine Revision des Vertrages von Sèvres. 1923 erhielt er mit dem Vertrag von Lausanne, was er gefordert hatte. Die Armenische Republik hatte bloß zwei Jahre existiert. Am Leben waren nunmehr in der Türkei nur noch an die 100.000 Armenier. Die kemalistische Türkei konnte die politischen Früchte der Untaten ihrer Regierungen und Führer ungeschmälert ernten und genießen. Als sich Frankreich und England in den 20er Jahren aus der Türkei zurückzogen, wurden unter dem Druck des neuen kemalistischen Staates sogar noch die wenigen Armenier, die als Überlebende unter dem Schutz der siegreichen Entente-Mächte in ihre Heimatgebiete zurückgekehrt waren, zum Exodus gezwungen - während die meisten jungtürkischen Massenmörder in dem Atatürk-Staat wichtige Funktionen und höchste Ämter übernahmen. Die Lösung der ,armenischen Frage', die im 19. Jahrhundert internationale Bedeutung erlangt hatte, bestand letztendlich in der nahezu vollständigen Vertreibung und Vernichtung des armenischen Volkes und der Zerstörung seiner Kultur durch den türkischen Staat im 20. Jahrhundert. Man kann die These wagen, daß der Genozid an den Armeniern die Basis für den kemalistischen Nationalstaat wurde.

<Während die Welt schon in den 20er und 30er Jahren dazu neigte, das furchtbare Schicksal der Türkisch-Armenier zu verdrängen (auch Hitler spekulierte bei der geplanten Vernichtung der Juden Europas darauf, dass die Armenier-Greuel doch schon vergessen seien), vermochten manche Künstler mit ihren empfindlicheren Gewissen von diesem grauenvollen Geschehen nicht loszukommen. Sie machten es zum Gegenstand zahlreicher Werke. Armin T. Wegner schrieb außer Gedichten erzählerische und publizistische Prosa über seine furchtbaren Erlebnisse und Erfahrungen in der Türkei (so z. B. die Aufzeichnungen ,Der Weg ohne Heimkehr' und die Erzählung ,Der Knabe Atam'). Auch begann er mit der Arbeit für ein Prosa-Epos, das aber nicht vollendet wurde, da ihm Franz Werfel 1933 mit seinem Roman ,Die vierzig Tage des Musa Dagh' zuvorkam. Das Werk wurde ein Welterfolg. (Seine Verfilmung in Hollywood unterblieb aber aufgrund türkischen Drucks.) In jüngerer Zeit hat der jüdische Erzähler Edgar Hilsenrath den bedeutenden Armenien-Roman ,Das Märchen vom letzten Gedanken' (1989) geschrieben; für den er den Alfred-Döblin-Preis erhielt. Dem Thema Vernichtung des armenischen Volkes sind auch die Filme ,Aram' (2002) und ,Ararat' (2003/04) des kanadisch-armenischen Regisseurs Atom Egoyan gewidmet.>

Heutzutage lebt nur etwa ein gutes Drittel aller Armenier (weniger als drei Millionen) in der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstandenen unabhängigen Republik Armenien, die geographisch quasi identisch ist mit der vormaligen Sowjetrepublik Armenien. Die anderen knapp zwei Drittel (viereinhalb Millionen) sind über die ganze Welt zerstreut. Wohl nur 60.000 noch leben in der Türkei selbst. Größere oder kleinere Minderheiten sind in den USA, in Lateinamerika, in Frankreich, in Kanada, im Libanon, in Syrien, im Iran und im Irak beheimatet - nur an die 40.000 sind in Deutschland ,zu Hause'. Die Armenier in der weltweiten Diaspora begreifen sich gutenteils - noch - als Exulanten, denen ihre alte Heimat in Ost-Anatolien vorenthalten wird. Sie sowohl wie die übrigen christlichen Minoritäten haben das Kapitalverbrechen an ihrer Urgroßväter-Generation jedoch nicht vergessen - und dies umso weniger, als verschiedene Formen der Bedrückung, der Benachteiligung und der Diskriminierung der restlichen christlichen Minderheiten durch den türkischen Staat bis in unsere Tage hinein praktiziert werden.

Bis heute auch ist der erste zielbewusst intendierte und ausgeführte Genozid des 20. Jahrhunderts ungesühnt. Dabei hat es seit 1918/19 immer wieder Versuche , gegeben, die Türkei zur Anerkennung ihrer Verantwortung für die Massen-Austreibung und das Mega-Pogrom zu nötigen.

Schon 1919 strengte die Nachfolge-Regierung der Jungtürken unter englischem und französischem Druck Prozesse gegen deren Führer an. Der Hauptprozeß endete immerhin mit 17 Todesurteilen, von denen aber nur drei vollstreckt wurden, und gegen die Hauptschuldigen erging das Urteil in absentia. Denn die schlimmsten Massenmörder hatten sich Anfang November 1918 rechtzeitig absetzen können, unter ihnen Enver Pascha und Talat Pascha. Talat wurde aber bereits 1920 von einem armenischen Studenten im Berliner Exil niedergeschossen. Den Attentäter, der alle seine Angehörigen in den Massakern von 1915/16 verloren hatte, sprach das zuständige deutsche Gericht sensationellerweise frei. (Die Nazis allerdings ließen Talats Gebeine 1943 in die Türkei überführen!) Enver Pascha fiel 1921 im Kampf gegen bolschewistische Verbände. Armenische Einzeltäter und Rächer-Gruppen töteten im Laufe der 20er Jahre etwa zweihundert in den Genozid verwickelte Personen türkischer Nationalität.

Die türkischen Regierungen nach dem II. Weltkrieg haben versucht, möglichst alle kulturellen Zeugnisse des historischen Armeniens zu beseitigen. So wurden fast alle Ortsnamen in den östlichen Provinzen geändert. Jahrhundertealte Kultur-Denkmäler, wie Kirchen, Klöster, Abteien und Schulen, wurden zerstört, geschändet, profaniert, missbraucht oder dem Verfall überantwortet. Man kann nicht umhin, die Eliminierung dieser Baudenkmäler als eine Fortsetzung des Völkermords mit anderen Mitteln zu interpretieren. (Vgl. hierzu Hofmann, S.155 ff.)

Seit 1973 machten armenische Untergrund-Organisationen von sich reden, die im Stile palästinensischer Terroristen vorzugsweise in westlichen Großstädten Attentate auf türkische Diplomaten verübten. Bis 1986 töteten sie über 40 türkische Diplomaten und verwundeten über 200 Personen. Ihre Ziele erreichten sie mit ihrem blutigen Terror freilich nicht: nämlich die türkische Anerkennung des Genozids und des Rechts der Armenier, auf dem Boden ihrer ehemaligen anatolischen Heimat in einem eigenen freien Staat zu leben.

Proteste, Drohungen und Pressionen der Türkei beeindrucken die Staatengemeinschaft immer noch mehr als der nur allzu berechtigte Vorwurf der Armenier, ihnen auch noch nach fast einem Jahrhundert und trotz der unbestreitbaren Faktizität der Vertreibung und des Massenmordes Genugtuung und Sühne zu verweigern. So kam es im März 1979 aufgrund von türkischen Protesten zur Streichung des Paragraphen 30 in einem Brief der Unterkommission der UN-Menschenrechtskommission, in welchem die Kommission zur Frage der Verhütung und Ahndung von Völkermord-Verbrechen Stellung genommen und die Massenmorde an den Armeniern als ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts bezeichnet hatte.

Anderwärts war man mutiger. Z. B. haben 38 der 50 Einzelstaaten der USA den Massenmord an den Armeniern als Genozid anerkannt (nicht aber die USA als solche, die 2000 eine im Kongreß vorbereitete entsprechende Resolution aufgrund türkischen Drucks nicht verabschiedete). 1984 hat das ,Ständige Tribunal der Völker' die "Verantwortlichkeit des türkischen Staates am armenischen Völkermord" festgestellt. Die dreizehn Richter des Tribunals aus fünf Kontinenten qualifizierten die Massentötungen der Armenier durch die Türken als ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts und verurteilten die Türkei deswegen. Die französische Nationalversammlung hat 2001 den türkischen Genozid als solchen durch eine Resolution mit Gesetzeskraft anerkannt. Diesem Beispiel sind Italien und die Schweiz gefolgt. Die drei Staaten haben deswegen "schwere Zerwürfnisse auf Zeit" mit der Türkei in Kauf genommen. (DER SPIEGEL 5/2005, S. 42) Im ganzen haben inzwischen 24 Länder die Anerkennung der türkischen Staats-Verbrechen "als Genozid im Sinne der Anti-Völkermordkonvention der Vereinten Nationen von 1948" (GfbV 1/2004) ausgesprochen. Zu diesen Staaten gehören außer den genannten auch Russland, Schweden, Belgien, die Niederlande, Kanada und der Vatikan - schmählicherweise aber nicht Israel und Deutschland.

Obwohl Deutschland als enger Freund der Türkei mehr als jeder andere Staat die "Verpflichtung" hätte, "den Armeniern vor der Geschichte Gerechtigkeit und Genugtuung zu verschaffen" (DIE ZEIT Nr. 13, 23. 3. 2005, S. 18), hat sich die derzeitige politische Klasse der Bundesrepublik gegenüber den Armeniern ähnlich deplorabel und opportunistisch wie die des deutschen Kaiserreichs im I. Weltkrieg verhalten. Dabei wird den deutschen Politikern nunmehr das Verhalten gegenüber der Türkei entscheidend dadurch erleichtert, dass sie sich nur positiv zu beziehen brauchten auf Entschließungsanträge, Appelle und Erklärungen des Europäischen Parlaments. Dieses nämlich hatte bereits 1987, dann im November 2000 und wieder im Februar 2002 der Türkei im Hinblick auf deren Bemühungen, Mitglied der EU zu werden, dringend nahegelegt, sich endlich zu ihrer historischen Verantwortung für den Genozid an den Armeniern und für den Massenmord auch an anderen christlichen Minderheiten zu bekennen. Türkische Wissenschaftler, Publizisten und Schriftsteller riskieren jedoch noch immer Strafverfolgung, wenn sie die Armenier-Greuel zum Gegenstand ihrer Arbeit und ihrer Veröffentlichungen machen. Auch steht in keinem türkischen Schulbuch etwas über das furchtbare Schicksal der Türkisch-Armenier. Vielmehr sind alle türkischen Schüler seit April 2003 gehalten, die Auslöschung des armenischen Volkes durch die Jungtürken zu leugnen.

Immerhin ist in der EU bis auf weiteres als eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Zulassung der Türkei zur EU auch deren Anerkennung des Völkermords im Gespräch. Ob die Erfüllung dieser Voraussetzung durchgesetzt werden wird, ist aber, vor allem wegen der feigen, unsicheren Haltung der Bundesrepublik in dieser Sache, noch sehr zweifelhaft. Und noch vor wenigen Wochen erklärte Mehmet Ali Irtemcelic, der derzeitige türkische Botschafter in Berlin, gegenüber der ZEIT: "Wenn die Armenier erwarten, dass die Türkei wegen des EU-Beitritts nachgibt - das werden wir nicht tun." (Zit. nach Nr. 13, 23. 3. 2005) Ein Wandel der deutschen Politik könnte dadurch eingeleitet worden sein, dass ein von der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag eingebrachter Antrag am Donnerstag, dem 21. April 2005, von allen Fraktionen akzeptiert und beschlossen worden ist: Der Antrag, der ,rücksichtsvoll' das Wort ,Völkermord' vermieden hat, fordert die Bundesregierung u. a. dazu auf, sich dafür einzusetzen, dass die Türkei sich endlich vorbehaltlos mit ihrer "Rolle gegenüber dem armenischen Volk in Geschichte und Gegenwart" auseinandersetzt und dass es zwischen Türken und Armeniern zu einem "Ausgleich durch Versöhnen und Verzeihen historischer Schuld" kommt. Auch gegen diesen Antrag hat der türkische Botschafter schon vor der Diskussion im Bundestag wieder drohend protestiert.

Bislang sind also noch alle Versuche, die Türkische Republik zur Einsicht und damit zur Akzeptanz ihrer Verantwortung für ihre finstere Vergangenheit zu bewegen, fruchtlos geblieben. Vielmehr sind der türkische Staat, seine Diplomaten und auch die Presse stets mit Drohungen und Pressionen gegen alle vorgegangen, die es wagten, von der Türkei die Bewältigung ihrer blutigen Vergangenheit zu verlangen. Noch vor wenigen Wochen wurde z. B. der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk, der in einem Interview die Ermordung der Armenier erwähnt hatte, mit massiven Drohungen eingeschüchtert und so zur Absage einer Lesereise gezwungen.

<Noch zwei weitere Beispiele aus den Jahren 2001 und 2005 für die Wirksamkeit dieser Pressionen: In Potsdam, wo Johannes Lepsius lange gelebt hat, war geplant, sein verfallendes Haus, das Teil des UNESCO-Weltkultur-Erbes ist, zu einer Stätte der Begegnung und des Dialogs zwischen Armeniern und Türken zu machen. Der brandenburgische Ministerpräsident Stolpe und der Potsdamer Oberbürgermeister Platzeck wollten das Vorhaben fördern - aber da meldete sich der türkische Botschafter Osman Korutürk energisch zu Wort und verlangte, unter glatter Leugnung des historischen Faktums des türkischen Massenmordes, die Aufgabe des Lepsius-Haus-Projektes. Dem Oberbürgermeister soll der Botschafter sogar mit einer Massendemonstration gedroht haben, bei der 200.000 Türken in Berlin in Marsch gesetzt würden, um mit einer Belagerung des Lepsius-Hauses dessen Wiederaufbau zu verhindern. (Report Mainz, 3. 9. 2001) Die Folge dieser Pression: Ministerpräsident und Oberbürgermeister (der überdies mit Morddrohungen überzogen wurde) knickten ein, nachdem ihnen auch aus dem Berliner Auswärtigen Amt bedeutet worden war, dass bei Nicht-Aufgabe des Projekts für die Bundesrepublik sehr schädliche diplomatischen Verwicklungen mit der Türkei zu befürchten seien. Und so geschah es - das Lepsius-Haus verfiel bis auf weiteres vor sich hin. Die geistige Hinterlassenschaft des großen Völkermord-Zeugen musste an einen geheimen Ort verbracht werden, da türkische Extremisten drohten, die Dokumente des Lepsius-Hauses zu zerstören.

Im Januar 2005 wurde die Türkei durch ihren Generalkonsul Aydin Durusoy abermals bei der brandenburgischen Landesregierung vorstellig und verlangte dreist von ihr, die Erwähnung des türkischen Genozids von 1915/16 in einer neuen ,Handreichung' für das Fach Geschichte in der Sekundarstufe I zu streichen. Wieder neigte die - von einer Fülle wütender antiarmenischer Zuschriften bedrängte - brandenburgische Landesregierung dazu, dem türkischen Druck nachzugeben, aber die empörte Reaktion mehrerer Politiker aus allen Parteien im Landtag sowie eine Intervention des bekannten jüdischen Autors und Journalisten Ralph Giordano beim Bundeskanzler führten diesmal dazu, dass das brandenburgische Bildungsministerium den Hinweis auf die Armenier-Massaker im neuen Lehrplan beibehielt. (DER SPIEGEL 5/2005, S. 42; Göttinger Tageblatt, 9. 2. 05, S. 3) Nunmehr will Brandenburg, als bisher einziges Bundesland, seinen Schülern den türkischen Völkermord von 1915/16 im Unterricht vermitteln - auch mit Hilfe eines neu einzuführenden Schulbuchs. (DIE WELT, 9. 2. 2005) So die Ankündigung des Ministerpräsidenten Platzeck. Die Botschafterin Armeniens, Karine Kazinian, sieht daher die wegen der Interventionen und Drohungen der Türkei entstandenen Irritationen als ausgeräumt an. Platzeck habe auch zugesagt, die Sanierung des Lepsius-Hauses als Archiv des Armenier-Genozids (nun doch! R.N.) weiter fördern zu wollen.>

Ich frage zum Schluß bewusst zugespitzt und provokatorisch: Sind eineinhalb Millionen vertriebener und bestialisch massakrierter christlicher Armenier weniger der Rede und des Gedenkens wert, als es sechs Millionen verschleppter und grausam umgebrachter Juden sind? Während der Holocaust an den europäischen Juden in der deutschen und globalen Öffentlichkeit noch nahezu täglich (und gerade jetzt wieder) in allen Medien thematisiert wird, hat bis vor kurzem hierzulande ebensowenig wie in der Türkei oder in der Welt-Öffentlichkeit kaum noch jemand von der Fast-Ausrottung des armenischen Volkes durch die ottomanischen Massenmörder gesprochen.

Der schlichte Grund dafür kann doch nicht nur sein, dass der eine Genozid 60 Jahre her ist und der andere jetzt 90 Jahre. Es stünde der Gemeinschaft zivilisierter Staaten wahrlich gut an, wenn diese bei der politisch-moralischen Bewertung und Bewältigung der unverjährbaren ,internationalen Staatsverbrechen' im 20. Jahrhundert endlich nicht mehr opportunistisch mit verschiedenerlei Maß mäßen.

Noch besteht wenig Hoffnung auf eine Aussöhnung zwischen Armeniern und Türken. Es dürfte vor allem noch sehr lange dauern, bis in der türkischen Bevölkerung, zumal in der Provinzbevölkerung, ein Bewusstseinswandel eintritt, der es der Regierung erlauben würde, mutig von der verstockten Leugnung eines alptraumhaften Faktums der jüngeren Geschichte der Türkei abzurücken und den Nachkommen der Opfer moralische und materielle Wiedergutmachung zukommen zu lassen. (Vgl. Göttinger Tageblatt v. 10. 2. 2005, S. 4.)

Ich habe hier versucht, einen kleinen Damm des Erinnerns gegen den Strom des Vergessens zu errichten, in welchem der erste große Genozid des 20. Jahrhunderts unterzugehen drohte - um der Gerechtigkeit willen für das in der neueren Geschichte so oft betrogene armenische Volk. "Vergessen" aber, so sagte schon Angelika Beer in ihrer Rede bei der Gedenkfeier des Zentralrats der Armenier in Deutschland am 24. April 2004 in der Frankfurter Paulskirche, "verhindert Versöhnung."

Eingesehene Literatur

Armenische Kolonie zu Berlin/ Armenisch-Apostolische Kirchengemeinde zu Berlin (Hg.): Armenien - türkisch behandelt. Dokumentation e. antiarmenisch. Hetzkampagne in Berlin-West u der v. Europa-Parlament verabschiedeten Resolution z. Armenisch. Frage. M. e. Einleitg. v. Tessa Hofmann.< ? >1988

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG, Ausgabe v. 24. 2. 2005

Frankfurter Rundschau, Ausgabe v. 16. 3. 2005 (m. 6 Artikeln z. Thema ,Völkermord in Anatolien')

Gesellschaft für bedrohte Völker: pogrom - bedrohte völker: Ausgabe 1/2004

Goltz, Hermann: Der gerettete Schatz der Armenier aus Kilikien. Sakrale Kunst aus d. Kilikia-Museum Antelias,Libanon, Wiesbaden 2000

Göttinger Tageblatt: Ausgaben v. 9. u. 10. 2. 2005

Hofmann, Tessa (Hg.): Die Verbrechen des Schweigens. D. Verhandlg. d. türkisch. Völkermords an d. Armeniern vor d. Ständig. Tribunal d. Völker. Vorw. u. redaktionelle Bearbeitg. v. T. H. Göttingen u. Wien, o. J. (ca. 1984/85) (pogrom Taschenbücher 1012, Reihe bedrohte Völker) (Frzs.Originalausg. : ,Le Crime de Silence. Le Génocide des Arméniens', Paris 1984) - Enthält Beiträge mehrerer Autoren; der Einfacheit halber gebrauche ich bei Zitaten im Text die Kurzform: Hofmann, S. ...

Lepsius, Johannes: Der Todesgang des Armenischen Volkes. Bericht üb. d. Schicksal d. Armen. Volkes in d. Türkei während d. Weltkrieges, Potsdam 1930. (= Reprint d. 2. Aufl. Heidelberg 1980) (1. Ausg. Potsdam 1916)

Manutscharjan, Aschot: Flucht vor der unbequemen Wahrheit, in: Rhein. Merkur (Beigabe) 46, 14. 11. 2002, S. 9

Report Mainz, Sendg. v. 3. 9. 2001

Sanders, Wilm (Hg.): Armenien. Kleines Volk mit großem Erbe, Hamburg 1989 (Publikationen d. Kathol. Akademie Hamburg, Bd. 6)

Ternon, Yves: Tabu Armenien. Gesch. e. Völkermords, Frankfurt/M., Berlin 1981 (= dt. Übersetzg. v.: T.,Y.: Les Arméniens - Histoire d'un génocide, Paris 1977)

DER SPIEGEL 5/2005, S. 42

Süddeutsche Zeitung, Ausgaben v. 22., 25. u. 26. 4. 2005

Wegner(1), Armin T.: Fällst du, umarme auch die Erde oder Der Mann, der an das Wort glaubt, Wuppertal 1974

Derselbe(2): Armenien ... Offener Brief an den Präsidenten der Vereinigten Staaten, Herrn Woodrow Wilson, über die Austreibung des armenischen Volkes in der<sic> Wüste, in: Berliner Tageblatt, 23. 2. 1919 (vorher schon u. d. T. 'Brief an den Präsidenten der Vereinigten Staaten' in: Die Frau der Gegenwart, Jg. XIII - Der neuen Folge VIII, 1. 2. 1919, S. 11-14)

DIE WELT, Ausgabe v. 9. 2. 2005

DIE ZEIT/Dossier, Nr. 50, 7. 12 1984, S. 17-19 u. Nr. 13, 23. 3. 2005, S.15-18

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Zum Thema noch, heutige information von Yahoo - Treffen Schroeder - Erdogan:

Gegensätze zwischen Schröder und Erdogan wurden bei der Bewertung der Massaker an den Armeniern im Ersten Weltkrieg deutlich. Erdogan äußerte «große Besorgnis» über die Behandlung des Themas durch den Bundestag. Dagegen betonte Schröder, dass sich der Bundestag fraktionsübergreifend zu einer deutschen Mitschuld bekannt habe. Er befürwortete den türkischen Vorschlag zur Einsetzung einer Historikerkommission auch mit internationalen Experten, damit die Ereignisse im Ersten Weltkrieg «fair aufgearbeitet» würden. Er hoffe, dass Armenien auf den Vorschlag eingehe.

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Вот из статья из Шпигеля (самый уважаемый немецкий журнал): кому интересно, может быть Картезиус переведет. Взгляд на проблему со стороны,

так смотрит большинство непричастных.

http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,352917,00.html

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  • 2 месяца спустя...

Völkermorde im Schulbuch Neuer Lehrplan ab August

Berliner Zeitung

19. Juli 2005

LUDWIGSFELDE. An Brandenburgs Schulen tritt zum 1. August 2005

ein geanderter Rahmenlehrplan fur Geschichte in Kraft. Neben dem

Volkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich ab 1915 werden

kunftig auch weitere Genozide wie der Mord an den Herero im fruheren

Deutsch-Sud-West-Afrika und der Mord an den Tutsi in Ruanda 1994 als

Unterrichtsthemen aufgenommen, teilte das Landesinstitut fur Schule

und Medien am Montag in Ludwigsfelde mit.

Ziel sei, neben dem Holocaust als "außerster Dimension" des

Volkermordes auch andere Genozide in der Moderne zu thematisieren.

Der Genozid an den Armeniern als erster systematischer Volkermord

des 20. Jahrhunderts wird mit 18 Seiten Hintergrundinformationen am

umfangreichsten dargestellt.

Interventionen turkischer Diplomaten zur Streichung des Volkermordes

an den Armeniern aus dem Geschichtslehrplan fur Brandenburger Schulen

hatten zu Jahresbeginn auch uberregional heftige Kritik ausgelost.

(epd)

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Phoenix, Sonntag, 24.07., Spielfilm/Dokumentation

21:00 - 21:45 Uhr (VPS 20:59)

Das Kreuz mit den Minderheiten

Die Türkei und die Armenierfrage 2005

Wann immer man mit Türken über Politik spricht, kann das, nur so lange gut gehen, bis man auf Kurden, Griechen und Armenier zu sprechen kommt. Die Minderheiten, sofern sie überhaupt noch im Lande existieren, sind ein rotes Tuch für die Türkei. Minderheiten gelten in der Türkei als gefährlich, als etwas Feindliches. Alles, was die Einheit der Nation in Frage stellen könnte, wurde seit den Zeiten der Staatsgründung mit Vehemenz geleugnet, bekämpft und gegebenenfalls vernichtet. Die Zerschlagung des Osmanischen Reichs nach Ende des Ersten Weltkrieges hat eine tief sitzende Angst gegen alles Nichttürkische hinterlassen. Wer in der Türkei kulturelle, ethnische oder religiöse Eigenständigkeit beansprucht, gilt bis heute als Fremdkörper.

Phoenix

Sendetermine

So, 24.07.05, 21.00 Uhr

Sa, 30.07.05, 12.00 Uhr

So, 31.07.05, 03.00 Uhr

So, 31.07.05, 07.30Uhr

So, 31.07.05, 18.00 Uhr

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  • Наш выбор

    • Наверно многие заметили, что в популярных темах, одна из них "Межнациональные браки", дискуссии вокруг армянских традиций в значительной мере далеки от обсуждаемого предмета. Поэтому решил посвятить эту тему к вопросам связанные с армянами и Арменией с помощью вопросов и ответов. Правила - кто отвечает на вопрос или отгадает загадку первым, предлагает свой вопрос или загадку. Они могут быть простыми, сложными, занимательными, важно что были связаны с Арменией и армянами.
      С вашего позволения предлагаю первую загадку. Будьте внимательны, вопрос легкий, из армянских традиций, забитая в последние десятилетия, хотя кое где на юге востоке Армении сохранилась до сих пор.
      Когда режутся первые зубы у ребенка, - у армян это называется атамнаhатик, атам в переводе на русский зуб, а hатик - зерно, - то во время атамнаhатика родные устраивают праздник с угощениями, варят коркот из зерен пшеницы, перемешивают с кишмишом, фасолью, горохом, орехом, мелко колотым сахаром и посыпают этой смесью голову ребенка. Потом кладут перед ребенком предметы и загадывают. Вопрос: какие предметы кладут перед ребенком и что загадывают?    
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